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Wissen über Heilmittel

Energetik von Substanzen

Ein fundamentales Prinzip im Ayurveda ist das sāmānya-viśeṣa-Prinzip. In Caraka-Saṃhitā, Sutrasthana 1.44-45 heißt es:

Sāmānya (Ähnlichkeit) ist immer die Ursache von Zunahme, und viśeṣa (Unähnlichkeit) ist immer die Ursache von Abnahme. Beides wirkt durch Anwendung. Sāmānya erzeugt Einheit, während viśeṣa das Gegenteil bewirkt. Ähnlichkeit erfordert ähnlichen Zweck (oder Aktion), während Unähnlichkeit das Gegenteil erfordert.“

Wie dies in der Praxis zu verstehen ist, wird aus den folgenden Erklärungen verständlich.

Dreifache Unterteilung der rasas nach gunas

Betrachtet man die rasas (6 Geschmäcker) unter dem Aspekt der sechs prominentesten gunas, kann man sie in drei Grade unterteilen: gering, mittelmäßig und stark. Jeweils drei rasas besitzen die Eigenschaften rau, feucht, kalt, heiß, schwer bzw. leicht in geringem, mittelmäßigem und starkem Maße. Tikta (bitter), katu (scharf) und kaṣāya (herb) sind rau/trocken; lavana (salzig), amla (sauer) und madhura (süß) feucht; lavana, amla und katu heiß; madhura, kasaya und tikta kalt; amla, katu und tikta leicht und lavana, kasaya und madhura schwer. In welchem Maße ist aus der folgenden Tabelle ersichtlich:

gering mittel stark
trocken tikta katu kashaya
feucht lavana amla madhura
heiß lavana amla katu
kalt madhura kaṣāya tikta
leicht amla katu tikta
schwer lavana kaṣāya madhura

Aus obiger Tabelle ist z.B. ersichtlich, daß tikta, der bittere Geschmack – durch seine vāta homologen Eigenschaften kalt und leicht – vāta anregt und daß madhura, der süße Geschmack – durch seine vāta heterologen Eigenschaften schwer und feucht – vāta lindert.

Feuchtigkeit vermehrt Feuchtigkeit (kapha/pitta) und Trockenheit vermehrt Trockenheit (vāta). Will man einen Zustand der Rauheit/Trockenheit des Körpers beseitigen, nimmt man befeuchtende Substanzen (süß, sauer und salzig). Will man Feuchtigkeit/Fettigkeit beseitigen, nimmt man raue Substanzen (herb, scharf und bitter im Fall von kapha und herb und bitter im Fall von pitta).

Hitze vermehrt Hitze (pitta) und Kälte vermehrt Kälte (kapha/vāta). Hitze wird durch kalte Substanzen beseitigt (bitter, herb und süß). Kälte beseitigt man durch heiße Substanzen (scharf, sauer und salzig).

Schwere vermehrt Schwere (kapha) und Leichtigkeit vermehrt Leichtigkeit (vāta). Schwere des Körpers wird durch leichte Substanzen beseitigt (bitter, scharf und sauer). Leichtigkeit beseitigt man durch schwere Substanzen (süß, herb und salzig).

Die Eigenschaften rau/trocken, feucht, heiß, kalt, schwer, leicht beziehen sich nicht unbedingt auf die äußere Erscheinung einer Substanz, sondern sind Eigenschaften der rasas bzw. den Substanzen innewohnende Eigenschaften.

Natürlich gibt es auch Substanzen, die mehrere rasas enthalten und somit gemischte Eigenschaften besitzen – z.B. Heilmittel, die mit verschiedenen Drogen hergestellt wurden oder eine mit unterschiedlichen Zutaten zubereitete Speise. Aber keine Substanz kann gleichzeitig heiß und kalt, oder trocken und feucht, oder leicht und schwer sein. Dies sind die Haupteigenschaften, es gibt noch andere. Im Ayurveda werden 20 Eigenschaften von dravyas (Substanzen) beschrieben.

Für den Effekt von Substanzen sind noch andere Faktoren maßgebend.

Vipāka, Vīrya und Prabhāva

Für das Wissen über die Wirkungsweise von dravyas (Substanzen) genügt das Verständnis von den rasas nicht. Der Arzt muß sich auch Wissen über deren vipaka, vīrya und prabhava aneignen. Vipāka ist das Verdauungsprodukt der rasas, vīrya die Energie und prabhava die spezifische Wirkung einer Droge unabhängig von rasa, vīrya und vipāka.

Vipāka

Madhura, lavana und amla sind oft förderlich für die Beseitigung von Wind, Kot und Urin aufgrund ihrer Feuchtigkeit. Im Gegensatz dazu behindern katu, tikta und kaṣāya aufgrund ihrer Rauheit die Beseitigung von Wind, Urin, Kot und Samen.

Katu-vipāka zerstört den Samen, behindert die Beseitigung von Kot und Urin und regt vāta an. Madhura-vipāka hilft bei der Beseitigung von Kot und Urin und vermehrt kapha und Samen. Amla-vipāka erregt pitta, hilft bei der Beseitigung von Kot und Urin und zerstört Samen.

Madhura-vipāka ist guruh (schwer) und katu und amla-vipaka sind laghu (leicht). Entsprechend der Variationen der gunas (Eigenschaften) gibt es auch gradmäßige Unterschiede in vipakas.

Vīrya

Virya ist das, was verantwortlich ist für jede Aktion einer Substanz im Körper. In Abwesenheit von vīrya kann keine Substanz eine Aktion entfalten. Manche Gelehrte sind der Ansicht, es gäbe acht vīryasmridu, tikshna, guruh, laghu, ushna, shita, snigdha, ruksa (weich, scharf, schwer, leicht, heiß, kalt, feucht/ölig, rau/trocken) –, doch werden im allgemeinen nur śīta (kalt) und uṣṇa (heiß) in Betracht gezogen.

Eine Substanz, die süß in Geschmack und vipaka ist, ist von kühlender Natur. Eine Substanz, die sauer in Geschmack und vipaka ist, ist von erhitzender Natur; desgleichen eine Substanz, die scharf in Geschmack und vipaka ist.

Ausnahmen in vīrya

Es gibt einige Ausnahmen, bei denen Substanzen, obwohl herb, süß oder bitter im Geschmack, von erhitzender Energie sind, wie z.B. Fleisch von Fischen und Sumpftieren und brihat pañcamula. Steinsalz, obwohl salzig im Geschmack, ist nicht von erhitzender Natur, und Amalaki ist nicht von erhitzender Natur, obwohl sauer im Geschmack. Aguru und Guduci sind bitter im Geschmack, aber von erhitzender Energie.

Ausnahmen in Aktionen von rasas

Manche Substanzen mit saurem Geschmack sind adstringent (z.B. Kapittha), während andere purgativ sind (z.B. Amalaki). Katu rasa ist anti-aphrodisiakisch; Sunthi (getrockneter Ingwer) und Pippali aber – beide scharf im Geschmack – sind aphrodisiakisch. Kashaya rasa ist hemmend und kalt; Haritaki, obwohl herb im Geschmack, ist laxativ und heiß. Substanzen lassen sich also nicht nur auf der Basis von rasa bestimmen, da selbst in Substanzen mit ähnlichem Geschmack Unterschiede in Eigenschaften beobachtet werden können.

Prabhāva

Rasa wird erkannt durch den Kontakt mit dem Körper (besonders mit der Zunge und dem Gaumen), vipaka durch die Beobachtung des Effekts auf den Körper nach der Verdauung und vīrya durch die Aktion während der Periode von der Einnahme der Droge bis zu ihrer Umwandlung.

In Fällen, wo trotz Ähnlichkeit in rasa, vīrya und vipāka ein Unterschied in der Aktion besteht, ist dieser Unterschied auf prabhava (spezifische Potenz) zurückzuführen. Z.B. ist Citraka scharf in Geschmack und vipaka und von erhitzender Energie, was in ähnlicher Weise auch auf Danti zutrifft, doch ist letzteres purgativ, Citraka aber nicht. Diese Wirkung von Danti ist prabhava. Gift agiert als Gegengift zu Gift – die Ursache ist prabhāva. In ähnlicher Weise sind auch die Aktionen von urdhvabhagahara (Emetika) und anulomika (Purgativa) auf prabhava zurückzuführen; desgleichen der Effekt einiger Edelsteine, wenn sie am Körper getragen werden. Einige Drogen agieren durch rasa, andere durch vīrya und wieder andere durch vipaka, guna oder prabhava. Im Falle gleicher Stärke von rasa, vīrya etc. übertrifft vipaka rasa; vīrya vipaka und rasa; und prabhava rasa, vipāka und vīrya.