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Spirituelle Aspekte im Ayurveda

Die Kategorie »Spirituelle Aspekte im Ayurveda« beinhaltet wichtiges Wissen über den Zusammenhang von Gesundheit und Leben im Einklang mit der göttlichen Ordnung.

Die Ursachen des Leids

  1. Fünf Faktoren, die Leid erzeugen
  2. Der vierfache Gebrauch der Sinne als Ursache von Glück und Leid
  3. Die besondere Bedeutung des Tastsinns
  4. Kāma als Ursache und Wirkung von Glück und Leid
  5. Dreifache Unterteilung der Leiden
  6. Das Maß von Glück und Leid
  7. Schlußbemerkung

In den vedischen Schriften wird der Körper als das Reich der Leiden bezeichnet, in welchem die bedingte Seele die Leiden von Geburt, von Krankheit, von Alter und von Tod erfährt. Diese Leiden werden in allen Lebensformen mehr oder weniger erfahren. Jedes Lebewesen wird geboren und jedes Lebewesen muß sterben. Mag sein, daß der purusha (der Herr des Körpers, die individuelle Seele) diese Leiden in einer primitiven Lebensform weniger erfährt als in einer menschlichen oder höheren tierischen Lebensform. Er mag auch das Leid von Krankheit und Alter im Körper eines Devas weniger erfahren als in der menschlichen Form, das Leid des Todes aber erfährt er nicht weniger stark. Wenn ein Lebewesen sein „gutes” karma1 auf den himmlischen Planeten ausgetragen hat, muß es wieder zur Erde zurückkehren und erneut einen menschlichen Körper annehmen. Für einen Halbgott ist es wahrscheinlich leidvoll, mit dem Bewußtsein zu sterben, ins irdische Jammertal zurückzukehren.2 Deshalb heißt es in der Bhagavad-gita:

ā-brahma-bhuvanāl lokāh punar āvartino 'rjuna
mām upetya tu kaunteya punar janma na vidyate

»Alle Planeten in der materiellen Welt – vom höchsten bis hinab zum niedrigsten – sind Orte des Leids, an denen sich Geburt und Tod wiederholen. Wer aber in mein Reich gelangt, o Sohn Kuntis, wird niemals wieder geboren.« (B.-g. 8.16)

Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind die Hauptprobleme für das Lebewesen in der materiellen Welt. Geburt, Alter und Tod sind in dieser Welt unvermeidbar. Es gibt keine Möglichkeit für das Lebewesen, den Leiden von Geburt und Tod zu entrinnen, solange es an die materielle Natur gebunden ist. Krankheiten und die damit verbundenen Leiden und mentale Leiden lassen sich weitgehend vermeiden, wenn man die verursachenden Faktoren kennt und sich dementsprechend vernünftig verhält.

Die Wurzel der Leiden sind die Wünsche und Begierden des Lebewesens, die sich auf die Befriedigung der Sinne, den Sinnengenuß richten. Wie eine Seidenraupe Fäden erzeugt, die ihren eigenen Tod bedeuten, so erzeugt eine unwissende Person Begierden durch den Kontakt mit den Sinnesobjekten und wird so zur Quelle ihrer Leiden. Die Sinne werden in den Schriften auch mit giftigen Schlangen verglichen. Man muß ihnen ihre Giftzähne ziehen, d.h. man muß sie kontrollieren, beherrschen, denn sonst wird man ihr Sklave und unter ihrem Diktat unter den Folgen der Sinnenbefriedigung zu leiden haben. Sinnliche Verlangen werden mit einem Feuer verglichen und die Befriedigung dieser Verlangen mit Öl, das man aufs Feuer gießt. Das bedeutet, daß die Befriedigung der Begierden zu neuen Begierden und somit zu neuen Leiden führt.

In der Katha-Upanishad gibt es eine interessante Allegorie für die Situation des Lebewesens im Körper. Der Körper wird dort mit einer Kutsche verglichen, purusha, die Seele, mit dem Fahrgast, die Intelligenz mit dem Kutscher, die Sinne mit den Pferden und der Geist mit den Zügeln. Wenn die Sinne nicht beherrscht werden, kommt das Lebewesen in Gefahr, genauso wie der Fahrgast in Gefahr kommt, wenn der Kutscher die Pferde nicht zügelt.

Fünf Faktoren, die Leid erzeugen

Punarvasu Atreya nennt als verursachende Faktoren des Leids (1) verwirrte, mangelhafte Intelligenz (buddhivibhramsha), (2) mangelhafte Selbstbeherrschung (dhrtibhramsha), (3) schlechtes Erinnerungsvermögen (smrtibhramsha), (4) kāla (der Zeitfaktor) und karma3 und (5) unzuträglichen Kontakt mit den Sinnesobjekten. Fehlerhafte Intelligenz, Zeit und unheilvoller Kontakt mit den Sinnesobjekten wurden schon genannt als verursachende Faktoren für Krankheiten. Hier nun werden sie erklärt:

(1) Fehlerhafte, mangelhafte Intelligenz – Wenn man etwas Ewiges als zeitweilig und etwas Zeitweiliges als ewig, etwas Schädliches als unschädlich und etwas Unschädliches als schädlich ansieht, deutet dies auf eine gestörte oder mangelhafte Intelligenz hin, denn normalerweise sollte die Intelligenz die Dinge richtig sehen, so wie sie sind. Einem falschen Verständnis folgen falsche (unheilvolle) Handlungen.

(2) Mangelhafte Selbstbeherrschung – Durch gestörte oder mangelhafte Fähigkeit der Selbstbeherrschung ist es nicht möglich, den Geist, der in Sinnengenuß vertieft ist, zu beherrschen. Es ist der Wille zur Selbstbeherrschung, durch den der Geist von unzuträglichem Kontakt mit den Sinnesobjekten zurückgehalten werden kann. Wenn der Drang des Geistes nach unzuträglicher Sinnenbefriedigung stärker ist als die Intelligenz und der Wille zur Selbstkontrolle, schafft sich das Lebewesen viele Leiden. Viele kennen das: der Geist will etwas, was die Intelligenz als schädlich erkannt hat. Es gibt einen inneren Kampf, aus dem dann oft der Geist als Sieger hervorgeht, d.h. obwohl einem die schädlichen Folgen einer Sache bewußt sind, geht man ihr trotzdem nach, weil der Wille zur Selbstbeherrschung schwächer ist als der Drang des Geistes. Das beste Beispiel dafür sind all die Süchtigen, die Gefräßigen und diejenigen, die ihren Sexualtrieb nicht beherrschen können. Sie wissen genau, daß ihre Sucht, ihre Gefräßigkeit oder ihr gesteigertes sexuelles Verlangen sie in den Ruin treiben, und dennoch sind sie nicht der Lage, sich zu beherrschen.

(3) Verwirrung der Erinnerung – Wissen über die Realität ist im Gedächtnis gespeichert. Wenn ein Mensch von rajas und tamas bedeckt ist, führt dies zur Störung des Gedächtnisses und er ist nicht mehr fähig, sich richtig zu erinnern. Man führt eine schädliche Handlung aus und erleidet die Folgen davon und zu einem späteren Zeitpunkt macht man wieder den gleichen Fehler, weil man vergessen hat, weil man sich nicht mehr daran erinnert, wie man schon einmal für eine ähnliche Handlung gelitten hat.

Handlungen, die von Personen ausgeführt werden, deren Intelligenz, Selbstbeherrschung und Gedächtnis gestört sind, werden als intellektueller Fehler bezeichnet. Sie erregen alle doṣas. Gewaltsame Stimulation der Körperdränge oder ihre Unterdrückung; übermäßige sexuelle Betätigung; übermäßige Kraftanstrengung; Handlungen zur falschen Zeit, im Übermaß oder im ungenügenden Maß (z.B. bei Therapien); Verlust des Anstands und des guten Benehmens; Mißachtung respektabler Personen; der Gebrauch schädlicher Dinge; Hinwendung zu Dingen, die Verrücktheit und schwere Störungen des Geistes verursachen; Aufenthalt am falschen Ort zur falschen Zeit; Freundschaft mit Schurken und Dummköpfen; das Unterlassen bzw. Ausführen von Handlungen, die in Sutrasthana 3.6 unter yama und niyama aufgezählt werden; Neid; Bosheit; Furcht; Zorn; Gier; Unwissenheit; Berauschung und Verwirrung oder Handlungen, die aus ihnen hervorgehen unter dem Einfluß von rajas und tamas gelten als intellektueller Fehler und sind die Ursache verschiedener Krankheiten.

(4) Kāla und KarmaKālaja-Krankheiten können durch den Einfluß des Zeitfaktors entstehen, sich verschlimmern oder vergehen. Zum Beispiel können Krankheiten entstehen, wenn die Jahreszeiten einen anormalen Charakter aufweisen,4 während der verschiedenen Stadien der Verdauung5 und während der verschiedenen Tageszeiten.6 Vāta-Krankheiten manifestieren sich im allgemeinen am Ende des Verdauungsvorgangs, am Nachmittag und nach Mitternacht; Pitta-Krankheiten manifestieren sich am Anfang der Verdauung, am Mittag und zur Mitternacht; und von kapha verursachte Krankheiten manifestieren sich im allgemeinen während der Verdauung, am Vormittag und vor Mitternacht. Kapha ist im allgemeinen häufiger die Ursache für Krankheiten während der Kindheit und Jugend, pitta für Krankheiten während des mittleren Lebensalters und vāta für Krankheiten im Alter.

Verschiedene Malaria-Fieberformen7 manifestieren sich zu bestimmten Tageszeiten, da sie zu diesen Zeiten Stärke erhalten. Ärzte, die mit dem Einfluß von kāla vertraut sind, sollten diese und andere Krankheiten unter gebührender Berücksichtigung ihrer Stärke und des Zeitpunktes, wo sie am meisten Stärke erhalten, behandeln, bevor sie sich manifestieren.

Krankheiten, die sich durch das Fortschreiten der Zeit im Alter und als Vorzeichen des Todes manifestieren, sind natürliche Krankheiten und können nicht beseitigt werden.

Zu den Krankheiten, die sich zu einer bestimmten Zeit manifestieren, gehören auch jene, die durch die sündhaften Handlungen des vergangenen Lebens verursacht werden. Sie manifestieren sich, wenn die Zeit reif ist, d.h. wenn die Frucht der Handlung ausgereift ist oder anders ausgedrückt, sie manifestieren sich als Früchte bestimmter Handlungen des vergangenen Lebens. Solche Krankheiten können nicht durch therapeutische Maßnahmen beseitigt werden. Sie vergehen, wenn die karmischen Reaktionen abgetragen worden sind.

(5) Unzuträglicher Kontakt mit den Sinnesobjekten – Das, was für eine Person ungeeignet ist, wird als asatmya (unzuträglich oder schädlich) bezeichnet. Übermäßiger und mangelhafter, falscher oder pervertierter Gebrauch und Nichtgebrauch der Sinnesorgane sind die drei Arten unzuträglichen Kontakts der Sinne mit den Sinnesobjekten, welche das Gleichgewicht der doṣas beeinträchtigen.

Durch das Hören zu lauter oder zu leiser Geräusche oder durch Nichthören wird der Gehörsinn gestört. Die pervertierte Benutzung des Ohres besteht im Hören von schrecklichen, unglückverheißenden, rauen und ungeliebten Klängen.

Übermäßige Benutzung, Nichtbenutzung und mangelhafte Benutzung des Tastsinns führt zur Störung dieses Sinnes. Kontakt mit giftigen Organismen, vergifteter Luft und kalten, heißen und öligen Substanzen zur falschen Zeit8 wird als pervertierter Gebrauch des Tastsinns bezeichnet.

Durch exzessives Anschauen leuchtender Objekte, exzessives Betrachten winzig kleiner Objekte und durch Nichtbenutzung wird der Gesichtssinn beschädigt. Pervertierter Kontakt besteht im Betrachten ungeliebter, ferner, zu naher, dunkler, furchterregender und ekelhafter Objekte.

Übermäßiger Verzehr, Nichtverzehr, mangelhafter Verzehr und Verzehr ungeeigneter Nahrungsmittel führt zur Störung der doṣas und ist somit eine Ursache von Krankheiten.

Das Riechen zu milder oder zu strenger Gerüche und Nichtbenutzung schädigen den Geruchsinn. Pervertierter Gebrauch des Geruchsinns besteht im Inhalieren fauliger, giftiger und Bakterien-verseuchter Gerüche.

Wenn eine Krankheit durch übermäßigen, mangelhaften oder pervertierten Gebrauch der Sinnesorgane verursacht worden ist, bezeichnet man sie als aindriyaka (durch die Schädigung der Sinne verursachte Krankheit).

Der vierfache Gebrauch der Sinne als Ursache von Glück und Leid

Dies sind die Faktoren, die Leid verursachen. Die Ursache für Glück (Gesundheit) ist maßvoller (richtiger) Gebrauch der Sinne, welcher schwer zu realisieren ist. Das ist der Grund, warum die meisten Leute immer unter der einen oder anderen Krankheit leiden, selbst wenn sie sich bemühen, maßvoll und gesund zu leben. Unzuträglicher Kontakt der Sinne mit den Sinnesobjekten läßt sich nicht immer vermeiden, besonders in der heutigen Zeit, wo Lärmbelästigung, Luftverschmutzung etc. fast überall an jedem bewohnten und unbewohnten Ort der Erde gegenwärtig sind und wo die Menschen, nur um zu überleben, gezwungen sind, schädlichen Kontakt zu haben. Dadurch hervorgerufene leichte Unpäßlichkeiten gelten nicht als Krankheiten.

Weder die Sinne allein noch die Sinnesobjekte erzeugen Glück und Leid (Gesundheit und Krankheit), sondern der vierfache Gebrauch der Sinne (richtiger, falscher, exzessiver und Nichtgebrauch), der wiederum vom Zustand der Intelligenz etc. abhängt. Er ist im medizinischen Kontext bedeutsam.

Letztendlich jedoch sind Glück und Leid von purusha, buddhi, manas, indriyas, indriyarthas und karman zusammen abhängig, da keiner der Faktoren von den anderen getrennt werden kann.

Die besondere Bedeutung des Tastsinns

Der Kontakt mit dem Tastsinn und mentaler Kontakt sind die Ursachen für Schmerz- und Genußempfindungen. Von allen Sinnen ist der Tastsinn der wichtigste. Ohne ihn haben alle anderen Sinne keine Bedeutung. Ein ganz einfaches Beispiel mag diese Tatsache verdeutlichen: ohne Tastsinn kann ich dem Mund keine Nahrung zuführen und ich kann auch nicht kauen und schlucken und also auch keinen Geschmack wahrnehmen. Ohne Gesichtssinn, ohne Geruchsinn, ohne Gehörsinn oder ohne Geschmacksinn kann man sich ernähren und Körper und Seele zusammenhalten, aber ohne Tastsinn kann man nicht leben. Es gibt keinen Sinn, der über den Bereich des Tastsinns hinausginge, das bedeutet, daß die Sinne nur etwas wahrnehmen können, was vom Tastsinn be-griffen werden kann. Der Tastsinn kann die Quelle eines Klangs, einer Form, eines Geruchs, eines Geschmacks be-greifen. Etwas Formloses, Geruchloses etc. kann er nicht be-greifen. Und was der Tastsinn nicht be-greifen kann, kann nur vom Geist, nicht aber von den anderen Sinnen wahrgenommen werden.

Kāma als Ursache und Wirkung von Glück und Leid

Glück und Leid bringen kama (Lust) hervor in Form von Verlangen und Abneigung, die dann umgekehrt wieder Ursache von Glück und Leid werden. Der Geist hat seine Schubladen von Glück und Leid, Freude und Schmerz, angenehm und unangenehm, weniger angenehm und weniger unangenehm etc. Er wird von Dualitäten beherrscht und ist ständig bestrebt, das eine zu erlangen und das andere zu vermeiden und was ihn dazu treibt, ist Lust. Fortgesetzter Kontakt mit einem Sinnesobjekt führt zu Anhaftung, aus Anhaftung geht Lust hervor.

Wenn man in seinem eigenen Leben die beiden – Glück und Leid – einmal gegeneinander aufrechnet, wird man feststellen, daß das Leid überwiegt, trotz intensiver Bemühungen, Leid zu vermeiden und Glück zu erlangen. Und selbst diejenigen, die von anderen wegen ihres angeblichen Glücks beneidet werden, werden zu demselben Ergebnis kommen, wenn sie ihr Leben ehrlich analysieren.

Im dritten Kapitel der Bhagavad-gita finden wir eine anschauliche, tiefe und klare Analyse der Lust. Es heißt dort in Vers 38-43:

„Wie Feuer von Rauch, ein Spiegel von Staub und ein Embryo vom Mutterleib bedeckt ist, so wird das Lebewesen von verschiedenen Graden der Lust bedeckt. So wird das reine Bewußtsein des weisen Lebewesens von seiner ewigen Feindin in der Form von Lust bedeckt, die niemals befriedigt werden kann und die wie Feuer brennt. Die Sinne, der Geist und die Intelligenz sind die Wohnstätten der Lust. Durch sie bedeckt die Lust das wirkliche Wissen des Lebewesens und verwirrt es. Deshalb, o Arjuna, bester der Bharatas, bezwinge gleich zu Anfang dieses große Symbol der Sünde, diese Zerstörerin des Wissens und der Selbstverwirklichung, indem du die Sinne regulierst.”

In der Erläuterung zu Vers 39 schreibt Srila Bhaktivedanta Swami Prabhupada:

„In der Manu-smrti heißt es, daß Lust durch kein noch so großes Ausmaß an Sinnengenuß befriedigt werden kann, ebenso wie Feuer niemals durch eine ständige Zufuhr von Brennstoff gelöscht werden kann. In der materiellen Welt ist Geschlechtsanziehung der Mittelpunkt aller Tätigkeiten, und daher wird die materielle Welt als maithunya-agara („die Ketten des Geschlechtslebens”) bezeichnet. In einem gewöhnlichen Gefängnis werden Verbrecher hinter Gittern festgehalten, und in ähnlicher Weise werden die Verbrecher, die gegen die Gesetze Gottes verstoßen, durch Sexualität in Ketten gelegt. Fortschritt der materiellen Zivilisation auf der Grundlage von Sinnenbefriedigung bedeutet, die Dauer der materiellen Existenz eines Lebewesens zu verlängern. Daher ist die Lust das Symbol der Unwissenheit, durch die das Lebewesen in der materiellen Welt gehalten wird. Während des Genusses sinnlicher Befriedigung mag es so etwas wie ein Glücksgefühl geben, doch in Wirklichkeit ist dieses vermeintliche Glücksgefühl der größte Feind des Sinnengenießers.”

Dreifache Unterteilung der Leiden

Man kann die Leiden dreifach unterteilen in:

  1. adhyatmika-klesha – Leiden, die aus dem Körper entstehen,
  2. adhibhautika-klesha – Leiden, die einem von anderen Lebewesen (Tieren, Menschen, Insekten etc.) zugefügt werden und
  3. adhidaivika-klesha – Leiden, die einem durch die Naturgewalten zugefügt werden (Trockenheit, Hitze, Überschwemmungen, Erdbeben etc.).9

Die adhyatmika-Leiden lassen sich direkt auf Lust als Ursache zurückführen. Adhibhautika- und adhidaivika-Leiden sind zum großen Teil Folge des karma, d.h. der sündhaften Handlungen, eines Lebewesens und werden so indirekt durch Lust erzeugt. Es mag jemandem bestimmt sein, aufgrund seines karma in einer Familie von Slumbewohnern Geburt zu nehmen und all die Leiden, die mit einem solch erbärmlichen Leben verbunden sind, zu erdulden; es mag jemandem bestimmt sein, Angst und Grausamkeit in einer Familie zu erfahren; es mag jemandem bestimmt sein, mit einem schweren körperlichen oder geistigen Defekt geboren zu werden usw. – die Möglichkeiten, Leid zu erfahren, sind unbegrenzt.

Das Maß von Glück und Leid

Das Leid, das ein Mensch heute einem Lebewesen zufügt, wird er morgen – morgen kann in diesem Leben oder im nächsten sein – am eigenen Leib erfahren. Törichte Menschen machen gerne den Zufall oder den „lieben Gott” für ihr Leid verantwortlich. Tatsächlich ist der Körper ein Produkt des karma eines Lebewesens und bestimmte Veranlagungen zu sogenanntem Glück und Leid sind ihm einprogrammiert. Das Maß an Glück, das einem bestimmt ist, kann man nicht vergrößern, und das Maß an Leid, das einem bestimmt ist, kann man nicht verringern – jedenfalls nicht durch materialistische Bestrebungen. Jemand mag es durch eine Kombination von persönlicher Anstrengung und Schicksal vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, das heißt aber nicht, daß er seinem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hat und bedeutet auch nicht unbedingt, daß er Glück erlangt hat. Bestimmte Leiden, die ihn als Tellerwäscher plagten, mag er jetzt nicht mehr haben, aber dafür mögen ihn jetzt andere Leiden plagen, die er vorher nicht hatte. Am Maß seines Glücks und seines Leids hat sich nichts geändert. In diesem Zusammenhang wird in den vedischen Schriften eine lehrreiche Geschichte erzählt. Die Geschichte handelt von einem König, der schon seit Jahren nicht mehr richtig essen konnte, weil sein Magen krank war. Die berühmtesten Ärzte hatten versucht ihn zu heilen, jedoch ohne Erfolg. So hatte der König zwar die Möglichkeit, sich die köstlichsten Gerichte zubereiten zu lassen, die man sich nur vorstellen kann, doch konnte er sie nicht genießen. Er sah täglich einen in Lumpen gehüllten Fischer an seinem Palast vorübergehen. Der Fischer war trotz seiner Armut vergnügt und sang stets ein Lied zum Lobe Gottes. Der König beneidete ihn und hätte gerne mit dem Fischer getauscht, wenn er dafür seine Gesundheit wiedererhalten hätte. Trotz seines Reichtums und seiner Macht, war es ihm nicht möglich, das Maß seines Glückes und Leides zu vergrößern bzw. zu verkleinern.

Schlußbemerkung

„Alles Leid wurzelt in Unwissenheit, alles Glück in reinem Wissen” lautet das Motto dieses Buches. Doch nützt und schützt das reinste Wissen nicht, wenn es nicht angewendet wird. Wenn man aus Mangel an Selbstbeherrschung in reiner Unvernunft getrieben von Leidenschaft wider besseres Wissen handelt, wird man leiden. Man wird immer leiden, solange man von rajas und tamas bewegt wird und nicht in sattva-guna, Reinheit und Tugenhaftigkeit, verankert ist. Dies ist ein Punkt, den man unbedingt verstehen sollte. Ein anderer Punkt ist, Leid läßt sich in dieser Welt nie ganz vermeiden. Ein Gefängnis ist nun einmal kein Ort des Vergnügens, selbst wenn der Gefangene eine erstklassige Gefängniszelle mit allem Komfort bewohnt und sich korrekt verhält und der Gefängnisdirektor mit ihm zufrieden ist. Warum gibt es überhaupt Leid, was ist die Funktion von Leid? Über diese Fragen haben sich schon viele kluge und weniger kluge Köpfe in der Weltgeschichte das Gehirn zermartert. Leid ist ein Faktor der Natur der materiellen Welt und das verkörperte Dasein ist für das spirituelle Lebewesen ein unnatürlicher Zustand. Man kann das Leid als ein Mittel betrachten, das der verkörperten Seele hilft, sich von der Verstrickung in die materielle Natur zu lösen und ihre wesensgemäße Position wieder einzunehmen. Das ist jedenfalls die Sicht eines sadhu, eines in spiritueller Erkenntnis fortgeschrittenen Menschen.

Anmerkungen

1 Die Reaktionen auf fromme Handlungen, die religiösen Verdienste, welche einem Menschen die Wiedergeburt unter den Himmlischen (devas) ermöglichen.

2 Es gibt in den vedischen Schriften Beschreibungen der himmlischen Planeten, des Lebens und des Genusses ihrer Bewohner, die diese Annahme rechtfertigen.

3 den Reifezustand der Früchte von Handlungen

4 Z.B. naßkalter Sommer, Wärme im Winter, Trockenheit oder übermäßig viel Regen während der Regenzeit

5 Zeitpunkt der Aufnahme der Nahrung, Stadium der Verdauung, Ende des Verdauungsvorgangs

6 Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend, Vormitternacht, Mitternacht, Nachmitternacht

7 Täglich wiederkehrendes, jeden 3. und jeden 4. Tag wiederkehrendes Fieber etc.

8 Zum Beispiel abhyanga während der Verdauung

9 Die dreifachen Leiden werden durch den Shivas und Durgas repräsentiert.


Der Text ist dem Werk Ayurveda-Lehrbuch – Caraka-Saṃhitā-Kompendium entnommen.